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Der Prignitzer vom 16.09.2021

Bach-Suite im Schatten der Dampflok in Wittenberge

Konzert im Lokschuppen

von Wolfram Haack

Ein ungewöhnliches Musikerlebnis konnten Konzertbesucher im historischen Lokschuppen Wittenberge genießen.

Wittenberge Für den Moment ruhen sie. Vor Kraft strotzende Arbeitstiere des ausgehenden Industriezeitalters der Gattung Dampfross. Im Museum „Historischer Lokschuppen“ Wittenberge stehen sie aufgereiht Gleis an Gleis. Der Anmutung nach sind dies barocke Lebewesen, an Leibesfülle dem Schwedenkönig Gustav Adolph in nichts nachstehend. Barock, also prall und kraftvoll war sein Schlachtross.

Die Schlachtrösser des Industriezeitalters waren inwendig von Natur aus hohl. Diesem Umstand verdanken sie die barocke Statur. Werden sie bei handwerklicher Hingabe mit dem richtigen Brennstoff befeuert, zum Beispiel Kultur, schnauben sie fröhlich weiter durch die Landschaft so wie im Lokschuppen in Wittenberge.

Musiker der „Wunderkammer“ haben mit dem Schauspieler Christian Manuel Oliveira (Sprecher und Gesang) an ihrer Seite am vergangenen Sonntag einen Weg gefunden, mit barockem musikalischen Reichtum zu geizen. Der Konstituierung der musikalischen Lesung „Der vergessenen Stern“ standen Kapitel aus dem Hauptwerk des Philosophen Egon Friedel zu Seite. Musikalische Schwergewichte vom frühen bis zum hohen Barock geben der Lesung Bewegung und Tonart.

Schallmauer zur Popmusik

Darunter im ersten Teil das „Air „aus Händels „Suite in d“ und dann vor allem der „Cold Song“ aus der Oper „King Arthur“ von Henry Purcel. Mit letzterem brillieren nicht nur Countertenöre. In den 80iger Jahren des vergangenen Jahrhunderts durchbrach der legendäre Klaus Nomi damit die Schallgrenze zur „reinen Popmusik“. Und wer in diesem Zusammenhang noch einmal behauptet, Schauspieler könnten ja gar nicht richtig singen, wurde durch Christian Manuel Oliveiras Interpretation der Purcel-Arie schon wieder vollständig geheilt. Diesem Evergreen folgte eine der einträglichsten Tonfolgen der Alten Musik: „La Musica“, aus Monteverdis Oper „l’Orpheo“, Vorsicht, Ohrwurmgefahr!

Zartes Cembalo vor dem riesigen Schwungrad

Dramaturgisch klug und mit eleganten Nuancen ist es wiederum Oliveira, der den Schussfaden als Sprecher nuanciert durch’s Musikgewebe treibt. Die ganze Thematik des Abends entwickelt sich mit und aus Egon Friedels Opus magnum, der „Kulturgeschichte der Neuzeit“. Friedels desillusionierende Sicht, in diesem Fall auf die Wirrungen des Barockzeitalters, sein ernüchternder Blick auf die völlige Sinnlosigkeit des dreißigjährigen und jeden Krieges, lässt noch immer erschreckende Rückschlüsse auf die jüngere Vergangenheit und die Gegenwart zu – alles ohne zu belehren.

Obschon im ersten Teil des Abends noch nicht solistisch eingesetzt, sind die Theorbe von Petra Burmann wie auch das zweimanualige Cembalo von Mira Lange in seiner fröhlichen Tapezierung der Blickfang vor dem großen, rot lackierten Schwungrad der Dampfmaschine. Das belebt nicht nur die Kulisse, sondern gerade auch die Phantasie von Konzertbesuchern, die sonst kaum etwas oder gar nichts mit „alter“ Musik am Hut haben.

Burmann greift ihr Instrument, das zur Familie der Lauten zählt und schon rein optisch etwas hermacht, zart und hart und bewegend an, selbst wenn es momentan schweigen soll. Was das Instrument der Spielweise einer Bedienerin gern nachträgt, hat Burmann ihm alles abgewöhnt. Brillant gerät ihr im zweiten Teil des durchweg gelungenen Abends dann auch die „Toccata apreggiata“ von Giovanni Girolamo Kapsberger, einem venezianischen Lautenisten mit deutschen Wurzeln.

Akrobatik für die Finger

Auch die ironische Eloge auf Meißel schwingende Aufständische, die schon im Mittelalter das Pariser Rathaus malträtiert haben sollen, ist bemerkenswert. „Le Tic Toc Choc ou Les Maillotins“ fordert von der Interpretin gehörige Akrobatik denn die Finger sind an die übergreifenden Hände einmal angewachsenen. Sportliches Durchhaltevermögen und technisch stabile Gleichmut sind die richtige Voraussetzung für das Stück.

Mira Lange hat nicht nur das perfekt drauf. Sie nötigt dabei selbst Schelmen, die bei drögen Klavierübungen ohne Zugewinn lediglich durchhalten, grenzenlose Begeisterung ab. Doch kein Neid!

Im Programm wich die jähe sportliche Begeisterung allmählich jener hintergründigen Erotik Monteverdis. Mit dem Ohrwurm aus l’Orpheo, schickte das Ensemble uns in die Pause. Es folgte ein ganz Großer, dessen Siegel zu Recht eine Krone trägt, über Martin Seemanns mit Darmsaiten bespanntes Violoncello. Seemann fasst das erste Menuett aus der Solosuite Nr. 1 (BWV 1007) für Violoncello von J.S. Bach auf, wie einen just in dem Moment verfassten Dialog. Das wirkt als wären Gedankenfluss und Tonerzeugungsapparat im Gespräch. Zu keiner Zeit ist ganz klar, ob dies zwingend in Katharsis enden wird.

Dank an das Team vom Lokschuppen

Das macht die Spannung aus, die J.S.Bachs Polyphonie auf die Spitze treibt. Als Seemann den Bogen absetzt und innehält, rumpelt ganz kurz etwas vor dem Schuppen. Dann ist es für einen Augenblick völlig still. Was für ein glückliches Zusammenspiel mit dem Zufall in einer jederzeit hoch musikalischen Inszenierung.

Der Rezensent zollt seinen Respekt für diesen perfekten Abend allen Ausführenden und den Initiatoren des Projekts „Klanglandschaft Prignitz“, Mira Lange und Martin Seemann. Dank an die Stadt Wittenberge und das Kulturkombinat Perleberg e. V. und Mitarbeitern des Historischen Lokschuppens.


Musiker der "Wunderkammer" präsentieren ein außergewöhnliches Konzert vor einer außergewöhnlichen Kulisse. Foto: Martin Ferch

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